Flucht aus der Flucht aus der Wirklichkeit

Ernst Kreuder: Herein ohne anzuklopfen

"Zur Veröffentlichung völlig ungeeignet. Verfasser hat durch Kriegseinwirkungen schwere Geistesschäden erlitten. Sollte dringend eine Anstalt aufsuchen."

Ob dieser Kommentar eines Lektors zu der Erzählung Schwebender Weg für Ernst Kreuder der Anlass war, einen Roman zu schreiben, der in einer Klinik für Geisteskranke spielt, ist nicht sicher. Jedenfalls nimmt Kreuder sich die Frechheit heraus, eine Figur namens "Ernst Kreuder" als Patient in seine Geschichte einzubauen, der dann auch Gelegenheit hat, sich über obiges Zitat auszubreiten. Weiterhin wird hier der übliche Umgang mit Geisteskrankheit in Frage gestellt, innerhalb und außerhalb der Anstaltsmauern ("Wer hier einzieht, hat es dringend nötig. Vielleicht hat er draußen so viel Hausordnung geschluckt, daß er davon Beschwerden bekam").

Der Ich-Erzähler ist allerdings nicht der im Roman eher als Nebenfigur auftretende "Ernst Kreuder", sondern J.C. Collins, dessen Name erst am Schluss genannt wird. Dieser Collins springt am Anfang des Romans aus einem Zug und klettert über die Mauer der geschlossenen Anstalt, wo er erklärt, dass er "ein paar Tage hier zubringen [...] und im Voraus zahlen" möchte. Seinen Namen weigert er sich zu kennen, um Versuche mit sich selbst durchzuführen, "anstatt mit Theorien und Ideologien".

Diese Versuche mit sich selbst scheitern allerdings immer wieder daran, dass sich Collins mit den Menschen um ihn herum beschäftigt. Da ist zum Beispiel Fräulein Pringsfeld, die einfach nur zu sehr in ihrer Phantasiewelt lebt und der Collins den simplen Wunsch erfüllt, einmal aus der Anstalt heraus und bis zur Landstraße zu gehen. Da gibt es Herrn Alvenshain, der eine Beziehung zu Schwester Paula hat und dem Collins zu einem ungestörten Wochenende in seinem Wochenendhaus verhilft. Aber er trifft auch verwandte Geister, allen voran Tivoli, der ihm als Pfleger zugeteilt ist. Rat und Hilfe holt er sich bei dem tauben Gärtner Konrad. Als der Chefarzt, von seinem Beruf zermürbt, Amok läuft und mit einer Pistole droht, wird er mit vereinten Kräftenmittels Kräuterbad und viel Geheimtuerei beruhigt. In die wieder entspannte Lage platzt "Kreuder" mit der Pistole des Chefarztes und gibt vor, die Entlassung aller Patienten erzwingen zu wollen. Im Nachhinein stellt sich diese Aktion als "Probe" heraus, wohl ein Seitenhieb des Autors auf seine Kritiker. "Ich schreibe kein Kapitel mehr, bevor ich nicht Schritt für Schritt die Proben durchgeführt habe. [...] Man hat meinen Büchern lange genug mangelnden Realismus vorgeworfen, Flucht aus der Wirklichkeit".

Flucht aus der Wirklichkeit kann man dieser Erzählung nicht vorwerfen, schon aus dem Grund, dass die Handlung gerade durch ihre ungewöhnlichen Vorkommnissemehr über die Wirklichkeit offenbart, als es bloßer Realis-mus könnte. Dennoch verzichtet der Roman auf eine krasse Durchbrechung der Realität, wie sie in anderen Werken Kreuders zu finden ist. Was hier geschieht, erscheint zwar etwas verrückt, aber es ist nichts Übernatürliches im Spiel.

Es finden sich auch immer wieder Bezüge auf den zweiten Weltkrieg: Zum Beispiel steigert sich Tivolis Bruder Hugo in Tiraden gegen den Krieg hinein, die so verspielt getextet sind, dass man sie ohne weiteres als KabarettVortrag gelten lassen könnte. Bezug auf die Nachkriegszeit nimmt ein von "Kreuder" verfasster Text (mit dem Titel Vorgänge der unbegreiflichen, ununterbrochenen Gegenwart oder Warum hat er zuviel Bier getrunken?), der die eigentliche Handlung durchbricht. Er berichtet darin von seinem Leben als armer Schriftsteller in dieser Zeit. Schließlich holt die Realität außerhalb der Anstalt die Handlung ein. Ein Panzer fährt ein Loch in die Anstaltsmauer. "Kreuder" kritzelt fieberhaft in sein Notizbuch Kommentare wie "Wetten, daß man den Panzer wieder für eine Erfindung von mir halten wird?" oder "Unmöglich, diese verschiedenen, gleichzeitigen Vorgänge auch gleichzeitig darzustellen". Das Loch in der Mauer gibt Collins offenbar den Anlass, die Anstalt wieder zu verlassen. Es folgt ein Gespräch mit einer unbekannten Stimme im Dunkeln, in dem er sich eingestehen muss, dass seine Versuche gescheitert sind.

Am Schluss des Romans steht (als "Epilog" bezeichnet) ein Brief von Collins an "Kreuder", in dem sein weiterer Weg beschrieben wird. Zentral hierin ist eine Begebenheit, bei der Collins auf einem Spaziergang einen Hang hinunter stürzt und sich daraufhin in einem Zustand zwischen Bewusstlosigkeit und Wachheit wiederfindet. Er beschreibt dabei den Verlust des Ich, jenen Zustand, den er vorher vergeblich gesucht hat. Weiterhin betont er die Notwendigkeit, "Souveränität über das Ich zu gewinnen" und dem "Selbst" zu begegnen.

Herein ohne anzuklopfen lässt sich auf verschiedene Arten interpretieren: als Beschäftigung mit dem Thema Geisteskrankheit, als Zeit- und Gesellschaftskritik, als ironischer Umgang des Autors Kreuder mit der Kritik an seinen Werken, als Plädoyer für Brüderlichkeit und Hilfsbereitschaft, als Versuch, die Frage nach dem Ich zu beantworten. All diese Aspekte kommen vor, sind jedoch geschickt eingewoben in eine spannende und interessante Geschichte, die sich durch unkonventionelle erzählerische Ideen und liebenswerte Figuren auszeichnet, mit denen man sich gerne anfreundet.

Matthias Bühler

Quelle: Kritische Ausgabe 1/2003