Zur Erinnerung Bier

Literatur: Das "Gedächtnistrinken" für den vor hundert Jahren geborenen Ernst Kreuder war wie ein Klassentreffen der Darmstädter Kulturszene

Die letzten Bierflaschen, die Ernst Kreuder geleert hat, waren dick und bauchig. Und man weiß nicht, was er zur modischen Longneck-Flasche gesagt hätte, die am Freitagabend ganz selbstverständlich neben seiner Totenmaske stand. Wahrscheinlich gar nichts, denn es ging ihm um den Inhalt. Zwar gilt die Neigung zum Alkohol gemeinhin nicht als charakterliche Auszeichnung, und bei Gedenkveranstaltungen wird sie in der Regel höflich verschwiegen. Zu Kreuder hätte das nicht gepasst. Er war kein Mann des Drumherumredens. "Gäbe es kein Bier", schrieb er schon 1932 aus München, "hätte ich wohl schon längst etwas angestellt." Und Gabriele Wohmann, die ihn später in Darmstadt kennenlernte, nannte ihn einmal einen "rabiaten Biertrinker".

Es war also durchaus angemessen, dass der Kranichsteiner Literaturverlag zum hundertsten Geburtstag des Schriftstellers ein "Gedächtnistrinken" ausrichtete. Kreuder ist vor über dreißig Jahren gestorben, viele seiner Werke, besonders die Kurzgeschichten, sind in Buchform nicht verfügbar. Aber vergessen ist er nicht. Ein großes Publikum drängte sich im Garten des Künstlerhauses Ziegelhütte bei strömendem Regen unter das Dach, um Auszüge aus dem Werk zu hören und diverse biografische Mosaiksteine präsentiert zu bekommen. Evelyn Wendler und Peter J. Hoffmann vom "Kabbaratz"-Kabarett hatten gemeinsam mit Iris Anna Otto eine Lesung vorbereitet, die mit dem Roman "Herein ohne anzuklopfen begann" und sich dann im Wechsel verteilter Rollen in biografische Zeugnisse verästelte, Auszüge aus Briefen etwa, die Kreuders Münchner Zeit schildern. Der Hilfsredakteur beim "Simplicissimus" erlebte staunend das Boheme-Leben, freilich ohne romantische Verklärung, sondern im Zeichen bitterer existenzieller Not. Beiträge zu Kreuders Biografie hatte auch Karlheinz Müller für einen zweiteiligen Vortrag aufgestöbert.

Und während die Kälte sich ausbreitete und das Publikum allmählich vertrieb, wurde das Bild dieses Schriftstellers lebendig. Die ihn nicht gekannt hatten, ahnten etwas von seinem Wesen. Aber es waren auch viele gekommen, die sich durch persönliche Erinnerungen mit Kreuder verbunden fühlen. Und so war das Gedächtnistrinken zugleich eine Art Klassentreffen der früheren Darmstädter Kulturszene. Man zeigte einander Bilder und Briefe, man erinnerte sich an die grüne Tinte, die Kreuder verwendete. Sogar Nana Kováts-Tatum, die Tochter des Bildhauers Georg von Kováts, war aus München angereist, mit einem Beutel voller Erinnerungsstücke im Gepäck.

Kulturamtsleiter Helmut Stütz, der in der Wirtschaft der Eltern das eine oder andere Bier an Kreuders Tisch getragen hatte, hatte aus der städtischen Kunstsammlung den einzigen Bronzeguss der Totenmaske mitgeschleppt, und da lag er dann auf einem Biertisch, ganz unspektakulär, umgeben von früheren Freunden. Man darf annehmen, dass diese Art des Gedenkens Ernst Kreuder gefallen hätte.

Johannes Breckner

Quelle: Darmstädter Echo vom 1.9.2003